Essay: Der Biopsychosoziale Code

Folgender Blogbeitrag ist als Einleitung zum von mir verfassten Essay „Der Biopsychosoziale Code – Sprache der Medizin des 21. Jahrhunderts“ gedacht. Der Essay ist seit heute (1. Dezember 2022) sowohl als Open-Access auf ResearchGate verfügbar als auch in Buchform bei Tredition erhältlich. Bei einem Buchkauf freue ich mich natürlich riesig über die Unterstützung!


Kurzinfos:

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Auch erhältlich bei: Amazon | Thalia | Hugendubel | buecher.de & Co.

Titel: Der Biopsychosoziale Code – Sprache der Medizin des 21. Jahrhunderts
Kosten: Softcover 33€ / Open-Access kostenfrei
Veröffentlichung: Tredition / ResearchGate
ISBN: 978-3-347-78779-7 (Taschenbuch)
Cover: Kerstin Nolting
Seitenzahl DIN A4 (exkl. Literaturverzeichnis): 66
Wörter (exkl. Literaturverzeichnis): ca. 16.200
Quellen: ca. 150
Veröffentlichungsdatum: 1.12.2022

Die Zusammenfassung zum Essay lautet:

„Der vorliegende Essay soll drei verschiedene Medizintheorien vorstellen: Biomedizin, Psychosomatik und Biopsychosoziale Medizin (BPSM). Nach eingängiger Erläuterung der Stärken und Schwächen jedes Modells wird ein Vorschlag für eine einheitliche logische und semantische Biopsychosoziale Sprache gemacht, da die BPSM als derzeit kohärenteste Theorie von Gesundheit und Krankheit verstanden wird. Das fehlende Begriffssystem der Biopsychosozialen Medizin stellt die derzeit größte Herausforderung bei dieser Medizintheorie dar. Die Überwindung der Sprachbarriere zwischen Therapeut und Patient könnte nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf praktischer Ebene zu verbesserten Behandlungsergebnissen führen, da die Kommunikation eine Schlüsselrolle im Gesundheitssystem einnimmt. Die Biopsychosoziale Medizin bietet überdies die Chance, Gesundheit nicht nur auf individueller, sondern auf kollektiver Ebene zu fördern.“


Einleitende Gedanken zum Essay

Der Psychoneuroimmunologe Prof. Dr. Dr. Christian Schubert hat im September 2021 den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Corona-Pandemie ist die größte Krise der westlichen Medizin!

Es gibt bisher keine treffendere Beschreibung für die Entwicklung der letzten zwei Jahre. Die Corona-Pandemie hat uns ganz offensichtlich aufgezeigt, dass unser Menschenbild und unsere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit unzureichend sind. Wie unter dem Brennglas ist dies für den No-COVID-Ansatz sichtbar geworden, den nahezu alle westlichen Regierungen weltweit (mehr oder weniger streng) umgesetzt haben. 

Anhänger von No-COVID behaupten noch heute, rigorose Maßnahmen seien im Bereich Public Health sinnvoll und notwendig, um das Virus auszulöschen, jedoch nicht streng genug umgesetzt oder eingehalten worden. Rigorose Maßnahmen seien wiederum überhaupt erst nötig gewesen, weil das Virus der unsichtbare Feind sei, der in vielen Fällen Todesfälle fordere oder zumindest bei einem großen Teil der Betroffenen Long-COVID auslösen würde. Deswegen – und das ist ja klar – dürfen Maßnahmen, egal was für Folgen sie mit sich bringen könnten, nicht hinterfragt werden. Wer es doch gewagt hat, der wurde unweigerlich als unseriös oder unwissenschaftlich diskreditiert.

Auch wenn schon zuvor kaum ernstzunehmende Argumente für den No-COVID-Ansatz zur Verfügung standen, hat sich die Sinnhaftigkeit seit den Vorfällen in Shanghai endgültig in Luft aufgelöst.

Doch wer sich die Prämissen dieser Ideologie genau angesehen hat, dem ist schon zuvor die einfältige und gar fragwürdige Argumentation aufgefallen: Im Weltbild der No-COVID-Anhänger ist Medizin dem Bereich der Biologie untergeordnet, muss empirisch-messbar und verifizierbar und alles außerhalb dieses Blickwinkels ist irrelevant oder unsinnig. Hier wird eine sehr reduzierte Form des biomedizinischen bzw. pathogenetischen Modells von Robert Koch angewandt, das sich wiederum auf Erkenntnisse des Philosophen René Descartes stützt. Im Cartesianismus gelten Körper und Geist als grundsätzlich getrennt.

Dieser fundamentale Dualismus hatte zu seiner Zeit (im 17. Jahrhundert) durchaus eine Berechtigung, da so Wissenschaftler vor der Deutungshoheit der Kirche eine Rechtfertigung körperlicher Forschungszwecke erreichen konnten. Was heute gerne vergessen wir: Wissenschaftler mussten sich schon immer gewissen Dogmen beugen, noch im Jahr 1799 wurde der Philosoph Johann Gottlieb Fichte von seiner Professur entlassen, weil er als Atheist in Verruf geraten war. Und heute ist es nicht unbedingt anders: Wer sich gegen das vorherrschende wissenschaftliche Dogma stellt, der wird aus der „scientific community“ ausgeschlossen.

Diese auf biologische Lehrmeinungen fixierte Denkweise verwundert umso mehr, wenn bedacht wird, dass wissenschaftlicher Fortschritt immer nur durch neue integrative Theorien möglich war, die bestehende Dogmen abgelöst haben. Ein Vorreiter dieser Überzeugung war übrigens kein geringerer als der österreichisch-britische Wissenschaftsphilosoph Sir Karl R. Popper.

Aber kommen wir zurück zur Medizin: Durch Descartes wurde der Geist das Monument der Kirche (zumindest bis zur Entstehung der Psychologie), während die empirischen Wissenschaften, genauer gesagt die Medizin, einen neuen Forschungszweig entwickeln konnten: die Humanbiologie. 

Die Trennung der einzelnen Wissenschaftsdiziplinen hatte zu Zeiten von Descartes also Sinn und Funktion, doch mit dem heutigen Wissen, was der Menschheit zur Verfügung steht, gibt es keine Rechtfertigung mehr, den biologischen Bereich von dem öko-sozialen oder psychologischen Bereich zu entfremden, gar vorzuziehen. Es ist generell fragwürdig, wie Wissenschaftler (insbesondere Labormediziner) ihre Ergebnisse als allgemeingültig und unumstößlich erachten können, ohne den Bezug zu anderen Disziplinen herzustellen. 

Das Problem der Denkweise heutiger Wissenschaftler liegt demnach in der Prämisse über die Trennung der verschiedenen Bereiche des menschlichen Erlebens. Es ist für die meisten heutigen Biomediziner unvorstellbar, dass die verschiedenen Teilbereiche menschlichen Erlebens trotz ihrer Unterschiedlichkeit alle zur gleichen Wirklichkeit des Menschen gehören. Relevante Beispiele, die dieses Argument untermauern, sind etwa die System-Theorie, die Epigenetik, das psychoneuroimmunologische Modell oder die Darm-Gehirn-Achse.

Auch die heute das Weltbild von Medizinern dominierende Biomedizin (dazu zählen auch Virologen, Epidemiologen & Co.) lässt sich auf individueller wie kollektiver Ebene als unzureichend bezeichnen. Zur Überwindung der derzeitigen medizinischen Krise von epochaler Bedeutung ist eine postmaterialistische Zeit der Aufklärung notwendig, die die vorhandenen Dogmen überwindet und die verschiedenen Wirklichkeitsebenen des Menschen wieder zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenführt. Ein Scheitern dieses Vorhabens könnte nicht weniger als den immer weiteren Verlust der Anbindung des Menschen an die Wirklichkeit bedeuten und damit eine (bereits seit längerer Zeit bestehende aber) immer weitere Zunahme an sichtbaren chronischen (!) Krankheitssymptomen, ohne, dass Mediziner dem etwas entgegenzusetzen hätten.

Erfreulicherweise gibt es bereits alternative Lösungen zum rein materialistisch- und körper-fixierten Ansatz der Medizin: Die Biopsychosoziale Medizin (BPSM).

Die vom amerikanischen Internisten George L. Engel aufgestellte und durch Pionierarbeit im deutschsprachigen Raum von Prof. Dr. Josef Egger unterfütterte Theorie wird heute von vielen Wissenschaftlern als ideales Leitbild der Medizin beschrieben, teilweise sogar als kohärenteste Medizintheorie bezeichnet, aber leider kaum angewandt. Dabei leistet die Biopsychosoziale Medizin nicht weniger als die Überwindung des Leib-Seele-Problems durch die Integration verschiedenster Modelle wie die System-Theorie und das psychoneuroimmunologische Modell. 

In der Biopsychosozialen Medizin wird der Mensch im Kontext eines hierarchischen Systems betrachtet, welches sich von Mikrokosmos bis Makrokosmos erstreckt. Der Mensch steht somit wieder einmal im Mittelpunkt, diesmal aber ohne sich seiner Verantwortung entziehen zu können.

Der Mensch wird im Weltbild der BPSM als Beziehungslebewesen in einem natürlich-hierarchischen System definiert. Dieser medizinische Anthropozentrismus beweist auf wissenschaftlicher Ebene die Fähigkeit des Menschen, sich um sein eigenes „System“ kümmern zu können. Die Gesundheit des Menschen ist hier nämlich kein fester Zustand, sondern eine Fähigkeit, die immer wieder neu geschaffen werden muss. Dabei beschränkt sich Gesundheit nicht auf einen einzelnen Bereich, sondern wird gleichsam als biologisch, psychologisch und öko-sozial anerkannt. Es gibt so auch keine psychosomatischen und nicht-psychosomatischen Erkrankungen, sondern allein solche Erkrankungen, die sich parallel in allen Wirklichkeitsebenen abspielen.

Die BPSM ist nicht irgendeine philosophische Idee, sondern eine theoretisch und praktisch konsistente Medizinperspektive: Ein heute standardmäßig als psychische Erkrankung diagnostiziertes Leiden geht immer auch mit biologischen und öko-sozialen Symptomen einher. Selbiges gilt für biologische und öko-soziale Erkrankungen. 

Unzählige Forschungsarbeiten untermauern die theoretische Validität und den praktischen Nutzen der BPSM. Doch wieso wird sie bisher nicht angwandt, gar für eine seit Jahrzehnten erkannbar unvollständige Medizintheorie missachtet?

Es hat in der Wissenschaftsgeschichte immer einige Zeit gedauert, bis alte Erkenntnisse neue abgelöst haben. So könnte es auch noch einige Zeit dauern, bis Mediziner ihre eigenen Prämissen und die vorhandenen Lehrmeinungen hinterfragen. Doch je schneller Wissenschaftler sich in der von Karl R. Popper geforderten Demut üben, desto mehr Schaden könnte von der Gesellschaft abgewendet werden.

Wissenschaftler sind nicht die Verantwortlichen, wenn es darum geht, bestehende gesellschaftliche Probleme zu lösen. Oder zumindest sollten sie es nicht sein. Doch sie sollten notwendige Impulse liefern, die den Menschen in seinem Wesen fördern. Denn zum Menschen gehört noch viel mehr, als nur die Suche nach der objektiven Wahrheit. Und darum ist es unvermeidbar, dass jeder Mensch sich um sein Schicksal, seine Gesundheit, seine Beziehungen kümmert.

Ein wichtiger Meilenstein zur Verwirklichung dieses Ideals könnte eine Biopsychosoziale Sprache sein, die Mediziner und Patienten gleichermaßen verstehen können. Meine Überlegungen zu diesem Thema habe ich in meinem 60 Seiten ausführlichen Essay „Der Biopsychosoziale Code“ dargelegt.

Im Grunde genommen bietet eine neue Sprache in der Medizin eine Chance, die dualistische Trennung zwischen Körper und Geist zu überwinden. So würde das Gesundheitssystem nicht mehr primär den Körper behandeln, sondern das Wechselspiel zwischen Körper, Geist und Umwelt. Es würde nicht mehr der „Abgrund der Kausalitäten“ verfolgt werden, wie der englische Arzt Thomas Sydenham es bezeichnet hat, sondern die Zusammenhänge wären entscheidend bei der Aufrechterhaltung von Gesundheit. So könnten pathogenetische Begriffe wie Stress, Schmerz und Trauma genutzt werden, die von Patient und Arzt gleichermaßen biologisch, psychologisch und soziologisch verstanden und angewandt werden können. Einen Impuls für eine neue Sprache der Medizin findet sich in „Der Biopsychosoziale Code“.

So oder so, an der Medizin des 21. Jahrhunderts muss sich etwas ändern. Ansonsten droht sie den Hippokratischen Eid und das daraus stammende Prinzip nihil non nocere („Zuerst nicht schaden.“) endgültig zu verraten, vielleicht sogar mehr Schaden anzurichten, als zu verhindern. 

Was, wenn nicht die Dramaturgie der COVID-19-Pandemie könnte uns dazu ermutigen, andere Wege einzuschlagen?


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